In eine ähnliche Richtung wie Denninger, hin zu einer Erweiterung des politischen Handlungsspielraums der VS, zielen gesetzgeberische Initiativen zur Liberalisierung des Studentenschaftsrechts in einzelnen Bundesländern. Haben die rot-grünen Landesregierungen in Niedersachsen und Berlin das allgemein-politische Mandat der Studentenschaft eingeführt?
$ 18 Abs. 2 des Berliner Hochschulgesetzes vom 12.10.1991 lautet: "Die Studentenschaft hat die Belange der Studenten und Studentinnen in Hochschule und Gesellschaft wahrzunehmen und die Verwirklichung der Ziele und Aufgaben der Hochschule zu fördern. In diesem Sinne nimmt sie im Namen ihrer Mitglieder ein politisches Mandat wahr." Dem entspricht fast im Wortlaut $ 44 Abs. 3 des Niedersächsischen Hochschulgesetzes vom 21.01.1994 (Sätze 1 und 2). Darüberhinaus ist dort zu lesen (Sätze 4 und 5): "Die Studentenschaft kann auch zu allen Fragen Stellung nehmen, die sich mit der gesellschaftlichen Aufgabenstellung der Hochschulen sowie mit der Anwendung der wissenschaftlichen Erkenntnisse und der Abschätzung ihrer Folgen für die Gesellschaft und die Natur beschäftigen. Sie unterrichtet die Hochschule und Öffentlichkeit über ihre Arbeit." Ähnliche Formulierungen wurden mittlerweile in das Bremische ($45 Abs. 2) und Hamburgische Hochschulgesetz ($ 131 Abs. 1) aufgenommen.
Erkennbar ist das Bemühen, die Möglichkeiten zur politischen Betätigung von VS zu erweitern, ohne aber dabei die von den RichterInnen gezogenen Grenzen zu überschreiten: Die neuen Gesetze erteilen ein politisches Mandat, soweit der Bezug zum Hochschulwesen gewahrt bleibt. Ein bescheidener Ansatz, der letzlich nicht mehr Freiraum bringt, als bisher schon aus den "hochschulpolitischen Belangen" oder aus der in fast allen Hochschulgesetzen genannten Aufgabe der "staatsbürgerlichen Bildung" ableitbar gewesen wäre. Diese Ableitung wird nun aber durch den Gesetzgeber selbst vorgeschrieben und bleibt nicht den RichterInnen überlassen. Hierin besteht der demokratische Fortschritt der Gesetzesnovellen.
Daß dieser Reformansatz nicht bescheiden genug sein könnte, deutet der erwähnte jüngste Beschluß des nordrhein-westfälischen Oberverwaltungsgerichts (OVG) an. (27) Es handelt sich dabei um eine einstweilige Verfügung, die Entscheidung in der Hauptsache steht aus; der Analye des Beschlusses darf also keine zu hohe Bedeutung beigemessen werden. Das Gericht untersagt dem AStA der Universität Münster bei Androhung eines Ordnungsgeldes in Höhe von 5 bis 500.000 DM, "politische Erklärungen, Forderungen und Stellungnahmen abzugeben, die nicht spezifisch und unmittelbar hochschulbezogen sind." (28 Dies ist nun nichts leider nichts Ungewöhnliches. Die Besonderheit des OVG-Beschlusses besteht in dem sichtbar gewordenen Versuch, liberale Bestimmungen des Studierendenschaftsrechts mit juristischer Spitzfindigkeit zu umgehen. Lange vor rot-grünen Reformambitionen wurde in das nordrhein- westfälische wissenschaftliche Hochschulgesetz (seit 1994: Universitätsgesetz - UG) folgende Norm aufgenommen: "Die Studentenschaft fördert auf der Grundlage der verfassungsmäßigen Ordnung die politische Bildung, das staatsbürgerliche Verantwortungsbewußtsein und die Bereitschaft zur aktuellen Toleranz ihrer Mitglieder." ($ 71 Abs. 3)
Der AStA der Universität Münster sah in dieser Bestimmung eine rechtliche Grundlage, "auf deren Basis wir allgemeinpolitische Themen mit herausragendem Interesse auch und gerade für Studierende dokumentiert, aber nicht kommentiert haben." (29) Das VGH sieht in dieser Norm aber einen Widerspruch zum höherrangigen Verfassungsrecht. Allgemeinpolitische Stellungnahmen der VS, wozu das Gericht auch die Dokumentation von Texten mit allgemeinpolitischem Inhalt, etwa ein Interview mit Exilkurden oder eine Satire mit dem Titel "Wie ich einmal bei der RAF war" (30), rechnet, könnten gesetzlich nicht erlaubt werden.
Diese Argumentation beruht letztlich auf der dargestellten rechtlichen Sichtweise auf das politische Mandat der VS als eine Grundrechtsverletzung. Weder durch eine Änderung des Landeshochschulrechts, noch durch eine Änderung des Hochschulrahmengesetzes soll das politische Mandat legalisiert werden können, da dies gegen ein Grundrecht verstieße und damit verfassungswidrig wäre.
Eine weitere Konsequenz dieser Lehre ist, daß sie jede/-n einzelne/-n StudentIn berechtigt, gegen behauptete Grundrechtsverletzungen eines VS-Organs gerichtlich vorzugehen. Diese klandestine Form der Popularklage ist im übrigen im Verwaltensverfahrensrecht nirgendwo vorgesehen. (31) In der Praxis sieht dies meistens so wie in Münster 1994 aus: Ein Mitglied eines bei der letzten Studierendenschaftswahl unterlegenen konservativen Studierendenverbands verhindert die Politik der von der Mehrheit der Studierenden gewählten Studierendenvertretung auf dem Rechtsweg.
Das Gericht hätte, wie es das Grundgesetz in Art. 100 vorsieht, die als verfassungswidrig beargwöhnte Gesetzesnorm dem Bundesverfassungsgericht zur Normenkontrolle vorlegen können. Der VGH geht aber einen anderen Weg: Er nimmt eine "verfassungskonforme Auslegung" des $ 71 Abs. 3 UG vor und gelangt zu dem Ergebnis, daß es "sich hierbei nicht um eine weitergehende Aufgabe der Studentenschaft handelt", (32) braucht der Vorschrift also keine weitere Beachtung zu schenken. Damit ist der Weg vorgezeichnet, mit der auch Verwaltungsgerichte in Niedersachsen oder Berlin rot- grüne Reformimpulse aus den Hochschulgesetzen weginterpretieren können.
24) A.a.O., S. 26 ff. bzw. S. 15 ff.
25) A.a.O., S. 33 f. bzw. S. 20.
26) A.a.O.
27) Beschluß des OVG vom 6.9.1994, Aktenzeichen 25 B 1607/94.
28) A.a.O., S. 1 f.
29) Presseinformation vom 19.09.1994.
30) Diese Satire hat inzwischen sogar ein Ermittlungsverfahren nach $ 129a StGB ausgelöst.
31) Vgl. F. Schreiber: Altes und Neues aus der Anstalt, in: Forum Recht 1994, S. 40 ff. (41 f.).
32) A.a.O. (Fn. 28), S. 5.