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Warum diese Studienreform?

Eine Analyse aus wirtschafltichem Blickwinkel


Einleitung
I. Ausgangssituation
II. Wirtschaftsstandort Deutschland
III. Wirtschaftliche Verwertbarkeit des Studiums
IV. Effizienz der Lehre
V. Die Reformvorschläge
VI. Wie kann es weitergehen?

Einleitung

Marburgs Studenten wehren sich gegen die Studienreform. An allen Fachschaften gründen sich Arbeitskreise, organisiert sich Widerstand. Auch die Vollversammlung des Fachbereiches Wirtschaftswissenschaften (02) ruft zur aktiven Teilnahme an der bundesweiten Aktionswoche auf. Doch wie weiter? Ein Streik allein wird die Probleme sicher nicht lösen. Aber was können gerade wir beitragen, was andere Fachbereiche nicht genauso gut oder besser machen können.

Also besinnen wir uns auf das, was wir können bzw. zumindest können sollten, wenn uns diese Uni auf die Menschheit entläßt, und versuchen die Sache mit volkswirtschaftlichem Sachverstand anzugehen. Die Ergebnisse seien interessierten Lesern zur Verfügung gestellt. Gerade denjenigen, denen in Diskussionen mit Reformbefürwortern wirtschaftliche Argumente entgegengehalten werden, können wir vielleicht mit unserem Beitrag eine Argumentationshilfe an die Hand geben.

I. Ausgangssituation

Zwei Dinge sind es, die bundesdeutsche Politiker zur Zeit bewegen. Zum einen die dringenden finanziellen Probleme auf allen Ebenen des Staatshaushaltes und zum anderen das sogenannte "Standortproblem" in Deutschland, auch Strukturkrise genannt. So sind es wohl in erster Linie finanzielle und wirtschaftspolitische Gründe, die Anlaß zu einer Reform geben.

Diese Gründe für einen Wandel in der deutschen Politik können nicht bestritten werden. Die Tatsachen sprechen für sich. Das Wirtschaftswachstum stagniert. Es wird behauptet, deutsche Produkte seien auf internationalen Märkten weit weniger wettbewerbsfähig als noch vor einem Jahrzehnt. Aber sind die geplanten Maßnahmen überhaupt geeignet, die angestrebten Ziele zu erreichen oder erweisen sie sich als unwirksam? Diese Frage galt es im Rahmen unserer Arbeitsgruppen zu klären.

II. Wirtschaftsstandort Deutschland

"Deutschland als Standort ist in Gefahr", diese Botschaft hört man allerorts. Uns ist Konkurrenz erwachsen. Der Rest der Welt lernt dazu. Und diese Konkurrenz, von unseren Wirtschaftskapitänen immer wieder als der Motor der Marktwirtschaft gepriesen, wird jetzt von eben diesen gefürchtet. Die Lösungsversuche: Senken der Reallöhne, Sozialabbau, Subventionierung maroder Industrien. Die Liste fortzuführen sei der Phantasie des Lesers überlassen. Aber helfen diese Maßnahmen, unsere Probleme zu lösen? Die früher von uns arrogant belächelten asiatischen Industrien holen weiter auf. Es wird nicht gelingen, die noch bestehenden Vorteile unsererseits weiter aufrechtzuerhalten. Also wohin soll der Weg uns führen? Unserer Ansicht nach kann die Lösung nur in der Suche nach neuen Aufgaben für die deutsche Wirtschaft liegen. Neue Industrien müssen aufgebaut, Zukunftstechnologien entwickelt werden. Aber wer soll diese Aufgaben bewältigen? Schmalspurwissenschaftler mit Minimaldiplom? Das kann nicht der Weisheit letzter Schluß sein. Jahrelang war die deutsche Wirtschaft stolz, die bestausgebildeten Fachkräfte der Welt zu haben. Bald wird sie sich rühmen können, die schnellstausgebildeten Fachidioten zur Verfügung zu haben. Der Weg muß ein anderer sein. Eine hochentwickelte Volkswirtschaft braucht hochqualifizierte Fachkräfte, und davon nicht nur eine Handvoll sondern viele. Auf keinen Fall weniger, als wir zur Zeit ausbilden.

III. Wirtschaftliche Verwertbarkeit des Studiums

Dieses Thema sei kurz und knapp behandelt. In was für einem Staate wollen wir denn zukünftig leben, wenn nur noch nach wirtschaftlicher Verwertbarkeit gefragt wird? Zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse gehört doch wohl in einer modernen Gesellschaft des angehenden 21. Jahrhunderts auch ein hohes Maß an geisteswissenschaftlicher Ausbildung.

IV. Effizienz der Lehre

Warum überhaupt ein staatliches Angebot universitärer Ausbildung? Ist es nicht viel wirksamer, diese Aufgabe in einer marktwirtschaftlich organisierten Volkswirtschaft ebenfalls dem Markt zu überlassen? Sicher, es würden sich private Anbieter für das Gut Bildung finden. Ebenso würde es Nachfrager geben, die in der Lage wären, dieses Gut für den sich bildenden den Preis zu kaufen. Nahezu sicher ist auch, daß für einen Teil der weniger finanzkräftigen Studis private Sponsoren in die Bresche springen würden. Es spricht also alles dafür, daß sich auf einem privaten "Bildungsmarkt" ein Gleichgewicht einstellen würde. Wir können allerdings noch sicherer annehmen, daß die Anzahl der ausgebildeten Studenten weitaus niedriger wäre als zur Zeit. Daß wir aber eine hohe Rate gutausgebildeter Akademiker benötigen, war dem Abschnitt II zu entnehmen.

Es ist doch auch nicht nur der Student, der von seiner Ausbildung profitiert. In hohem Maße ist es auch die Gesellschaft, die ihm diese Ausbildung ermöglicht hat.Als letztes sei überlegt, wer auf einem privaten Bildungsmarkt vom Studium ausgeschlossen würde. Doch diejenigen, die es sich finanziell nicht leisten könnten. Daß dies nicht unbedingt diejenigen wären, die die intellektuell weniger geeigneten Studenten sind, muß nicht weiter erklärt werden.

Fazit bleibt also, es ist weitaus effektiver, die Aufgabe akademischer Bildung staatlich zu lösen, als sie einem rein privaten Markt zu überlassen.

V. Die Reformvorschläge

Die bislang vorliegenden Papiere zur Studienreform enthalten kaum konkrete Maßnahmen zur Durchführung der Reform. Konkret scheinen bislang nur die geplanten Sanktionen gegenüber den Studenten zu sein. Der Rest bleibt bloße Absichtserklärung. Zugegeben, es klingt sehr verlockend, wenn in den Papieren von einer Verbesserung der Lehre gesprochen wird. Maßnahmen, wie diese erreicht werden kann, werden nicht genannt. Der Grund ist einleuchtend. Solche Maßnahmen würden Geld kosten, und das scheint zur Zeit leider knapper denn je. Bleiben also die Sanktionen. Begrenzung der Regelstudienzeit, Studiengebühren, Zwangsexmatrikulation. Aber wohin können diese führen? Geplant scheint ganz klar eine Verringerung der Studentenzahlen an den Universitäten mit der Erwartung, dadurch Kosten zu senken. Unserer Meinung nach werden diese Maßnahmen bei weitem nicht die Erwartungen der Finanzpolitiker erfüllen können.

Der größte Teil der Kosten eines Studiums ist nicht abhängig von der Studiendauer. Sie entstehen im Gegenteil schon allein dadurch, daß ein Studienplatz in Anspruch genommen wird. Langzeitstudenten, die aus welchen Gründen auch immer die Veranstaltungen nicht besuchen, verursachen allenfalls Verwaltungskosten.

Die Kapazitäten unserer Hochschulen sind darauf ausgelegt, etwa 900.000 Studierende aufzunehmen. Dementsprechend entstehen auch von der Studiendauer unabhängige Kosten für die Bereitstellung dieser Kapazität. Realität ist aber, daß sich in den Universitäten 1,8 Millionen Studierende, also auf jedem Platz 2, drängeln, ohne daß die finanzielle Ausstattung angepaßt worden wäre. Daraus folgt, daß wenn man nennenswerte Kostensenkungen herbeiführen wollte, die Zahl der Studierenden mindestens halbieren müßte, und selbst dann könnte man nur Mittel einsparen, wenn Kapazitäten stillgelegt würden. Auch das Argument, daß Langzeitstudenten bereits arbeiten könnten, und damit zum Steueraufkommen beitragen würden ist nicht stichhaltig. Wer ohne Erreichen des angestrebten Abschlusses die Universität verlassen muß, wird eher der Sozialhilfe zur Last fallen, als Steuerzahler werden. Gäbe man ihm hingegen die Chance, sein Studium zu beenden, ist die Wahrscheinlichkeit, eine entsprechende Anstellung zu bekommen, schon sehr viel höher. Betrachten wir weiter die Erhebung von Studiengebühren. Sie haben die gleiche Wirkung wie ein sich auf einem freien Markt entwickelnder Preis. Wer sich die Zahlung des Preises nicht erlauben kann, intellektuell aber sehr wohl zum Studium geeignet ist, wird die Universität nicht besuchen können. Auch die Finanzierungswirkung der Maßnahme fällt kaum ins Gewicht. Angenommen wir hätten in jedem Jahr 300.000 Studenten jenseits der Regelstudienzeit, die eine jährliche Studiengebühr von DM 1.000,- zu zahlen hätten. Dies würde zu einem Gesamtaufkommen von 300 Mio DM führen. Damit wäre nicht einmal die Philipps-Universität incl. Klinikum zu finanzieren. Im Gesamt-Bildungsetat der Länder wäre dies ein verschwindend geringer Posten.

Die Einführung von Gebühren hat also eine weitaus geringere Finanzierungsfunktion, als vielmehr eine Sanktionierungsfunktion. Diese ist aber aus Effizienzgründen abzulehnen. Zwei weitere sich widersprechende Maßnahmen bedürfen der Klärung. Den Hochschulen soll die Autonomie über die ihnen zur Verfügung stehenden Finanzmittel übertragen werden. An sich eine sehr begrüßenswerte Maßnahme. Gleichzeitig ist jedoch geplant, die Entscheidungsgewalt über einzelne Studiengänge, Studieninhalte, Prüfungsverfahren und Prüfungsinhalte den Ländern zu überantworten. Daß diese beiden Gedanken sich grundsätzlich widersprechen bedarf keiner weiteren Erläuterung. Nicht nur die Annahme, daß Ministerien eine höhere Entscheidungskompetenz über Studieninhalte haben könnten als die betreffenden Universitäten, ist falsch. Auch die Vorstellung, daß jemand den ihm zur Verfügung stehenden Etat sinnvoll verwalten kann, ohne daß er die Autorität über zu treffende Entscheidungen hat, entbehrt jeder Logik.

VI. Wie kann es weitergehen?

Grundsätzlich ist eher eine Erhöhung der Kapazitäten an Fachhochschulen und Universitäten wünschenswert als eine Verringerung. Der Bedarf für eine große Anzahl akademisch ausgebildeter Personen wird weiter bestehen und sich noch verstärken. Dies wird nicht nur eine Reform der Strukturen, sondern auch eine erhebliche Aufstockung der Mittelzuweisungen verlangen. Es ist also völlig verfehlt, eine Reform mit einem Abbau von Kapazitäten zu verbinden.

Da erhöhte Mittelzuweisung an Universitäten und Fachhochschulen zwar ökonomisch sinnvoll wäre, aber in absehbarer Zeit politisch nicht durchsetzbar ist, ist mit einer Verbesserung der Ausstattung gegenwärtig nicht zu rechnen. Bleiben momentan also Reformen, die die wirtschaftliche Belastung zumindest begrenzen.

Eine kurze Studienzeit ist sicher ein erstrebenswertes Ziel. Der Arbeitsmarkt verlangt nach Absolventen, die in angemessener Zeit ihr Studium beendet haben und gleichzeitig den gestiegenen Anforderungen der Wirtschaft gewachsen sind. Dies wäre Motivation genug, falls uns die Universitäten überhaupt die Möglichkeit böten, in der erwünscht kurzen Zeit zu studieren. Solange dies nicht möglich ist, ist es die Aufgabe der Politiker sowie der Lehrenden und Lernenden, diese Verhältnisse herbeizuführen. Sanktionen sind auf diesem Weg kein geeignetes Mittel. Wer aus wirtschaftlichen oder sozialen Gründen nicht in der Lage ist, in der vorgesehenen Zeit zu studieren, darf nicht vom Studium ausgeschlossen werden.

Die Hochschulautonomie muß unbedingt erhalten bleiben! Die Studierenden müssen weitaus stärker in Entscheidungsprozesse eingebunden werden als bislang üblich. Die Verwaltungsstrukturen müssen entbürokratisiert werden. Die vorhandenen Strukturen sind zu wenig an den Bedürfnissen der Studenten orientiert. Prüfungsverfahren sind reformierbar. Es ist nicht einzusehen, daß Examensprüfungen in Blockform durchgeführt werden müssen. Die Einführung einer "Freischußregelung" kann in verschiedenen Fachbereichen sinnvoll sein.

Es ist unsere Aufgabe, Reformvorschläge zu machen. Niemand kennt die Probleme der Studierenden besser als wir. Auf keinen Fall darf eine Reform ohne die maßgebliche Mitarbeit der Studierenden durchgeführt werden. Noch eines an diejenigen, die meinen, es sei besser, an der eigenen Karriere zu arbeiten, als sich um die Probleme anderer zu kümmern:

Das Rückgrat dient dem aufrechten Stehen, nicht dem schmerzfreien Bücken !


Quellennachweis

Dieser Text ist das Ergebnis mehrerer studentischer Arbeitsgruppen, die am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften während des Streiks an der Marburger Philipps-Universität im Dezember 1992 zusammenkamen. Der Artikel ist dem "Streik-Reader" des Arbeitskreises Hochschulpolitik (ak hopo) entnommen.
bay, 15.1.2001, URL www.michael-bayer.de