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Wieder hörbar einmischen

Absolventen-Treffen zum 50. der Politikwissenschaft in Marburg

Von Michael Bayer
Zuererst erschienen auf der Hessenseite der Frankfurter Rundschau, 14. Mai 2001

"Hier hat sich ja gar nichts verändert", zeigt eine ehemalige Marburger Politikstudentin bei ihrem Weg zu Raum B 510 verblüfft auf die freiliegenden Betonwände der ehemaligen Philosophischen Fakultät. Auch im Seminarzimmer erinnert manches an früher: Reinhard Kühnl sitzt geduldig die 15 akademischen Minuten ab. Dann, nach drei Sätzen zur Begrüßung, erklärt der Faschismusforscher, wie die Weimarer Eliten den Nationalsozialisten den Weg ebneten. Auf die Tafel hinter Kühnl hat jemand geschrieben "Verteilt die Macht, damit sie keinen mächtig macht". Allerdings muss das schon einige Zeit zurückliegen; der Kreidestrich ist dünn, die Buchstaben sind teils verwischt. Also doch nicht alles wie damals? Was ist geblieben von der Schule Wolfgang Abendroths? "Bilanz und Perspektiven der Marburger Politikwissenschaft" - während eines zweitägigen Treffens versuchten etwa 200 Absolventen aus 50 Jahren mit ihren ehemaligen Lehrern die Entwicklung des Instituts und der Disziplin zu beschreiben.

Gute Laune kam in den Diskussionen selten auf. "In Marburg von der Krise der Linken zu sprechen ist, wie Eulen nach Athen tragen", fasste Abendroth-Schüler Kurt Lenk (Erlangen) die Stimmung in Worte. Frank Deppe, der an der Lahn geblieben war, sprach gar von einem "selbstverschuldeten Bedeutungsverlust der Politikwissenschaft". In den jungen Jahren der Bundesrepublik sei das Fach noch als "kleiner Stützpunkt in einem Umfeld der Kontinuitäten" etabliert worden. Die Ausweitung der Forschungsgebiete und die Professionalisierung seit den siebziger Jahren habe aber eine normale Wissenschaft aus ihr gemacht. Deppe forderte, Politologen sollten sich an die klassischen Felder ihrer Disziplin erinnern: Staat und Gesellschaft überwachen, Gestaltungsvorschläge erarbeiten und sich durchaus in die große Politik einmischen. "Wir müssen wieder sichtbar und hörbar gegen den Strom schwimmen", machte er Mut.

Das freilich wird zunehmend schwieriger: "Es ist erstaunlich, wie beratungsresistent Politiker sind", ärgerte sich Absolvent Norbert Schüren, Chef der SPD-Fraktion im Marburger Stadtparlament. Hans-Jürgen Urban vom Hauptvorstand der Industriegewerkschaft Metall erklärte das Verhalten damit, dass inhaltliche Ratschläge für viele Parteien unwichtiger würden. Politiker redeten zunehmend lieber über beliebige Dinge, die ihnen Stimmen bringen, statt reale Probleme zu bearbeiten. Oft zähle nicht das Argument, sondern die Art, wie ein Thema transportiert wird, meinte auch Franziska Wiethold vom Verdi-Bundesvorstand, die in Bezug auf die Rentendebatte eingestand: "Die Bundesregierung hat die Gewerkschaften völlig ausgeknockt." An dieser Entwicklung haben Marburger Politologen ihren Anteil, die als PR-Berater arbeiten - etwa der Journalist und ehemalige hessische Regierungssprecher Klaus-Peter Schmidt-Deguelle. Er wird in Berlin als Garant des Erfolgs von Spar-Finanzminister Hans Eichel und Imagepfleger von Bundesarbeitsminister Walter Riester gehandelt.

Kritischen Stimmen ein Gehör zu verschaffen, wie Deppe es sich wünscht, wird auch in der Wissenschaft schwieriger. Andreas Keller, Referent für Hochschulpolitik der PDS-Bundestagsfraktion, vermisste eine systematische Nachwuchsarbeit am Marburger Politikinstitut. Wer Professor werden wollte, entgegnete Frank Deppe kurz, sei mit einem marxistischen Thema chancenlos gewesen - und habe sich deshalb ein anderes gesucht. Ein Mechanismus, der sich in Zeiten wettbewerbsorientierter und kriterienbezogener Steuerung der Hochschulen verschärft: "Was sich nicht auszahlt, wird als nutzloser Ballast über Bord geworfen", klagte Kurt Lenk. Manche Politologinnen im Publikum, die in den vergangenen Jahren zu feministischen Fragen promovierten, stimmten dem leise zu.

Nostalgisches Historisieren wollten die Organisatoren zwar vermeiden. Dennoch gehörte auch das zu dem Symposium - und hatte durchaus seinen Charme. Etwa wegen der überraschten Gesichter der Studierenden jüngeren Semesters, die sich von ihren erfolgreichen Vorgängern handfeste Studien- und Karrieretipps versprochen hatten - und statt dessen hörten, man habe ohnehin nicht wegen eines Abschlusses oder Berufs studiert.

"Wir kümmerten uns um Studien- und Lebensbedingungen und haben dabei viel gelernt", sagt etwa Almuth Westecker, die heute die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit im Presseamt der Stadt Frankfurt leitet. Und Schmidt-Deguelle gesteht, "als Präsident des Studentenparlaments ein Audimax mit 3000 Leuten zu bändigen, hat mir mehr gebracht für meinen Job als Fernsehjournalist als vieles andere an der Uni." Richtig in historische Details ging die Debatte, als Kurt Lenk die Marburger mit Thesen provozierte, die Abendroth inhaltlich nahe an den Frankfurter Sozialwissenschaftler Theodor W. Adorno rückten. Die Argumente konnten viele im Hörsaal kaum nachvollziehen. Aber sie hatten dennoch ihre Freude daran, wie sehr die alten Herren in ihren Sphären diskutierten - und nur kurz irritiert aufblickten, als das Publikum laut loslachte: "Sie wissen ja noch alle, wie das 1968 war", war da Kurt Lenk rausgerutscht.


Michael Bayer, 27.5.2001