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Gesellschaftlicher Kontext der Hochschulreform

"Wir müssen die Krise jetzt nutzen,

denn jetzt sind die Menschen reif"(1)


"Ungleichheiten der Bildungschancen sollten soweit wie möglich abgebaut, Benachteiligungen aufgrund regionaler sozialer und individueller Voraussetzungen aufgehoben werden. Jeder einzelne sollte seinen Lerninteressen und Lernmöglichkeiten entsprechend gefördert werden und in einem vielfältigen curricularen Angebot nicht nur Kenntnisse und Fähigkeiten erwerben, sondern auch zur Erkenntnis von Zusammenhängen, zu selbständigem Handeln, zu Kooperation und der Übernahme von Verantwortung und zu lebenslangem Lernen befähigt werden." (2)

Da eine Hochschulstruktur-Deform nicht vom Himmel fällt, haben wir den gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen Zusammenhang, in dem sie steht, betrachtet. Hiermit sind wir in einer Woche nicht fertig geworden, nach Möglichkeit wollen wir weiterarbeiten.

Das Stichwort 'genereller Sozialabbau' drängt sich fast von selbst auf. Die Argumentenkette 'wirtschaftliche Krise - der Staat muß Geld sparen - Kürzungen (nicht nur) im gesamten sozialen Bereich' scheint uns zu kurz zu sein. Denn die Hochschuldeform spart nicht sehr viel Geld - weder Bund noch Ländern noch Kommunen - und eine kürzere Verweildauer an den Universitäten schafft keine Arbeitsplätze, im Gegenteil: die vormals Studierenden, also in 2/3 der Fälle auf dem Niedriglohn-Arbeitsmarkt Teilzeitbeschäftigten, stehen jetzt mit absolviertem Schmalspurstudium früher als vorher in der Gegend rum. Wo sie profitbringend hinsollen, ist uns nicht ganz klar.

Wir sehen aber, daß die derzeitige Krise der öffentlichen Haushalte ideologisch ausgeschlachtet wird. Es wird Stimmung gemacht, Stimmung z.B. gegen AusländerInnen, sozial Schwache, Linke, gegen jegliche emanzipatorischen Ziele - und Stimmung für die Akzeptanz etwa einer Verlängerung der Lebens- und Wochenarbeitszeit, von tariflichen Nullrunden usw. usf.

Um diese Akzeptanz zu schüren, werden sog. preußische Tugenden ausgegraben und hochgehalten. Der gesellschaftliche Konservatismus manifestiert sich auch in der Restauration eines überwunden geglaubten Frauenbildes. Die bloße Erwähnung des Begriffes Feminismus wird regelmäßig mit Pfeifkonzerten honoriert. Beispiele sind die erste Stud.-VV oder die Wiesbadener Kundgebung.

Die neuen alten Werte Disziplin, Starker Staat, Pflichterfüllung als oberstes Lebensziel, Untertanengeist werden in allen gesellschaftlichen Bereichen zur Geltung gebracht. Sehr schön deutlich wird der breite Schulterschluß in einem Ausspruch der stellvertretenden DGB-Vorsitzenden Engelen-Kefer: "Diese Gruppen - ältere oder solche, die den gestiegenen Ansprüchen nicht standhalten - dürfen nicht nutzlos dahinvegetieren."Sie will mit ihnen "Aufgaben in Angriff nehmen, die privatwirtschaftlich nicht rentabel sind".

Was dies genau heißt, erläutert der Staatssekretär im Wirtschaftsministerium Johann Eekhoff: "Sozialhilfeempfänger, die diese zusätzliche Arbeit leisten, können dann auch etwas mehr bekommen, als sie heute erhalten, nur nicht so viel wie in hochproduktiven Bereichen." Beschlossen wurde, ihre Sozialhilfe um drei Mark pro Arbeitstag aufzustocken. Arbeitsdienst.

Wir sehen den gesellschaftlichen Mainstream sich auch in den studentischen Protesten niederschlagen: Politikfeindlichkeit breitet sich immer mehr aus, Kritisches Hinterfragen ist nicht mehr angesagt. Was nicht mit Spaß konsumiert werden kann, stößt auf Desinteresse. Die TeilnehmerInnenzahl des AK Gesellschaftlicher Kontext hat sich von ca. 30 auf fünf reduziert.

Ein Hort der Gesellschaftskritik sind die Unis schon länger nicht mehr, dieser Zustand wird jetzt durch Studieren im Akkord und Festschreibung der Inhalte manifestiert.

Die Studienstrukturreform sehen wir als einen Anpassungsprozeß der Hochschule - einer staatlichen Organisation, einer simplen Ausbildungsstätte, wenn man sie so sehen will - an die Gesellschaft. Eine kapitalistische Gesellschaftsordnung ist, ob man das nun wahrhaben will oder nicht, vom Kapital geprägt. Dieses befindet sich in der BRD (weltweit ist diese Entwicklung schon etwas weiter) auf dem Weg zum Toyotismus. Toyotismus ist, verkürzt gesagt, eine Art der Produktion, in der qua internalisiertem Leistungsdruck produzierende 'Teams' die Firmenziele verinnerlichen und dementsprechend selbst am Fließband "unternehmerisch" gedacht wird. Dazu gehört ein Kontingent an bei Bedarf abrufbaren Zeitarbeitenden, die in ungeschützten Arbeitsverhältnissen stehen. Wenn die Werktätigen eines Betriebes bei solcher Umstrukturierung des Produktionsprozesses, mit der auch eine zwangsweise Produktivitätssteigerung einhergeht, nicht mitziehen wollen, können sie durch die Drohung mit der Abwanderung des Betriebes in ein Niedriglohnland erpreßt werden. Die Arbeitenden sind in großkonzerninternen Trainee-Kursen sicher besser auf das Unternehmensdenken einzuschwören als z.B. in einem ansatzweise wissenschaftlichen Studium.

Für eine solche Entwicklung müssen die Menschen reif gemacht werden. Dieses u.a. durch das große Preußen-Revival, das sich in der Konzeption der Nach-Deform-Uni niederschlägt. Die Reformpläne sind zwar nicht neu, sondern in den späten 70er Jahren entstanden, aber jetzt lassen sie sich durchsetzen.

Natürlich ist das hier beschriebene nicht das einzige Interesse, das die Hochschulen deformieren will. Ein anderer Stichpunkt wäre die Angleichung der akademischen Bildung in der Europäischen Union.

Weiterhin ist während unserer Arbeit die Frage aufgetaucht, ob diese Krise der öffentlichen Haushalte nicht vielleicht von denen, die sie jetzt ideologisch ausnutzen, auch hätte vermieden oder verschoben werden können und wenn ja, ob dann bloße Dummerhaftigkeit der Grund für sie ist. In einer Zeit, in der die Endlichkeit natürlicher Ressourcen viel diskutiert wird und in der kein Gegenpol (Realsozialismus) mehr als Feind- und somit Identifikationsobjekt vorhanden ist, müssen sich u.E. die Leute anders als über Wohlstandsdenken oder äußere Feinde mit ihrem System identifizieren. Die etwas andere Identifikation wird wohl derzeit forciert. Diese These der jetzt so gewollten Krise ist bisher nur ein Gedankenspiel, das wir nach Möglichkeit beweisen oder widerlegen wollen.


Texte

Trampert, R.; Ebermann, Th.: "Jetzt sind die Menschen reif", in: konkret 9/93, S.10-13

Kuhlwein, E.: Rollback in der Bildungsreform? In: Schabedoth, H.-J.; Scherer, K.-J. (Hg.): Ende der Wende?: Konservative Hegemonie zwischen Manifestation und Erosion. Marburg 1990, S.230-238

Kollatz-Ahnen, M.: Konservative Vormacht in Hochschule und Wissenschaft und ihre Grenzen. Ebd. S.239-245

Roth, K.H.: Die Wiederkehr der Proletarität und die Angst der Linken. Referat vom 12.6.93 (konkret-Kongreß), gekürzt abgedruckt in: ak 356, 7.7.93


Fußnoten

(1) Tyll Necker, zitiert nach Trampert, R.; Ebermann, Th.: "Jetzt sind die Menschen reif". In: konkret 9/93, S.10-13.
(2) "Zukünftige Bildungspolitik - Bildung 2000", Drucksache 11/5349, S.9f. Zit. nach: Kuhlwein, Eckart: Rollback in der Bildungsreform? In: Schabedoth, H.-J.; Scherer, K.-J. (Hg.): Ende der Wende?: Konservative Hegemonie zwischen Manifestation und Erosion. Marburg 1990, S.230-238.

Quellennachweis

Dieser Text ist das Ergebnis einer studentischen Arbeitsgruppe, die während des zweiwöchigen Streiks im Dezember 1993 in der Phil-Fak der Marburger Philipps-Universität, zusammenkam. Der Artikel ist dem "Streik Reader" des Arbeitskreises Hochschulpolitik (ak hopo) entnommen.
bay, 15.1.2001, URL www.michael-bayer.de