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Alternativen, Analysen ]
Ziele der derzeitigen Bildungspolitik
Zuweisung und Rechtfertigung ungleicher sozialer Chancen statt soziale Integration
Von Torsten Bultmann, Bund demokratischer WissenschaftlerInnen (BdWi)
Ich stelle folgende Behauptungen / Thesen zur Diskussion:
- Die "soziale Öffnung der Hochschulen" war in den alten Bundesländern spätestens Anfang der 80er Jahre beendet. Seitdem nimmt die soziale Integrationsfunktion des gesamten Bildungssystems ab und seine Selektionsfunktion wieder zu: d.h. es dient immer augenfälliger der Zuweisung und ideologischen Rechtfertigung ungleicher sozialer Chancen.
- Auf dem 15. DGB-Bundeskonkreß 1994 wurden etwa die dominierenden Formen der Weiterbildung (Antrag 109) folgendermaßen eingeschätzt: "Trotz grundsätzlicher Offenheit und Zugänglichkeit für alle partizipiert nur ein bestimmter Teil der Bevölkerung. Weiterbildung wirkt selektiv zugunsten qualifizierter oder privilegierter Teilnehmer(innen) und zulasten von Dequalifizierten und unterprivilegierten und verstärkt damit schulische, berufliche, atersbedingte und geschlechtsspezifische Benachteiligungen". Diese Einschätzung läßt sich m.E. für alle "modernen" Bildungsfunktionen verallgemeinern, die für die bestehende berufliche Praxis "anschlußfähig" sind.
- Die "Krise der Hochschulen" ist im Kern eine Krise des Taylorismus, d.h. seiner Berufsmuster und sozialen Hierarchien, die sich auch in der Form der überlieferten hierarchischen Bildungsstrukturen widerspiegeln. Die herrschende Politik verschärft diese Krise eher noch: auf wachsenden gesellschaftlichen Problemdruck wird mit Formen stärkerer vertikaler Differenzierung des Bildungssystems (von der Festschreibung des dreigliedrigen Hochschulsystems) reagiert.
- In der Hochschulentwicklung widerspiegelt sich folglich auch die Segmentierung des Arbeitsmarktes in Richtung der Zwei-Drittel-Gesellschaft. Sozialstaatliche Steuerungselemente innerhalb der Bildungspolitik nehmen zunehmend zugunsten ökonomischer Bewertungsmuster ab. Das Recht auf Bildung (und Hochschulzugang) wird tendentiell durch die prüfungsmäßig zu erbringende Nachweispflicht eigener Berechtigung ersetzt: kurz, Bildungs- und Beschäftigungsrisiken werden auf diese Weise individualisiert.
- Der ökologische Umbau der Industriegesellschaft erfordert das Gegenteil. In Stichworten: breite Allgemeinbildung, horizontale Differenzierung, soziale Öffnung und gegenseitige Durchlässigkeit verschiedener Bildungsformen. Integration "wissenschaftlicher" und "praktischer" Bildungselemente. Die aktuelle politische Schlüsselforderung, die in diese Richtung führt, ist die Gleichstellung von dualer Berufspolitik und gymnasialer Oberstufe als Hochschulzugangsberechtigung. Das Abitur als entscheidendes "Nadelöhr" zur sozialen Chancenverteilung ist zum Ärgernis geworden!
- Hochschulpolitik ist Gesellschaftspolitik - und kein "Ressort"!
Diese Thesen hat Torsten Bultmann für eine Diskussionsveranstaltung "Bildung und Beruf" des BdWi und der Universität Göttingen (AStA/DGB) am 29.11.1994 vorgelegt. Sie waren auch Grundlage eines Workshops beim politischen Festival AUFBRUCH 95 in München.
bay, 15.1.2001, URL www.michael-bayer.de